Heute gibt es ein Interview quasi aus dem Archiv! Ich habe dieses Interview mit der lieben Alli Neumann bereits zur Veröffentlichung ihres Debütalbums Madonna Whore Complex geführt, damals ging es aber nur bei bedroomdisco.de online und nicht wie gewohnt auch hier! Ich sprach mit Alli über ihre Erwartungen an ihr Debütalbum, über das freimachen von gesellschaftlichen Strukturen und den Druck, alles alleine machen zu wollen. Enjoy!
Hi Alli, wie geht’s dir heute und wie waren die letzten Monate für dich?
Mir geht’s gut! Die letzten Monate waren auf jeden Fall aufregend, ich muss mich wieder an das Pensum gewöhnen, das man den Job als Musikerin leider nur in Vollzeit machen kann (lacht). Ich arbeite richtig gerne, aber jetzt gerade sind es schon immer sehr lange Tage, auch sich wieder darauf einzustellen, so viele Menschen in so kurzer Zeit zu sehen, ist krass. Ich freue mich aber voll, ich dachte, alle Leute hätten mich vergessen und dass ich wieder von vorne anfangen muss, aber es gab doch noch ein paar Leute die noch am Start sind (lacht). Ich habe jetzt zum ersten Mal seit eineinhalb Jahren wieder Konzerte gespielt und meine Favorite Fans sind immer noch da!
Sehr cool! Ja, es gibt ja auch viele Künstler:innen, die erst während der Pandemie so richtig an Bekanntheit gewonnen haben, die jetzt ihre ersten Konzerte spielen, bei denen dann aber direkt total viele Leute stehen. Das stelle ich mir auch krass vor, wenn man da direkt so reingeworfen wird.
Ja stimmt, das ist bestimmt mega absurd! Ich hab ja schon vorher gespielt, ich dachte halt einfach, dass ich in Vergessenheit gerate. Ich hatte gerade meinen Peak und dann kam die Pandemie, da hat es sich kurz so angefühlt, als wäre das alles nur ein kurzer Traum gewesen!
Bald erscheint ja dein Debütalbum Madonna Whore Komplex, wie fühlst du dich jetzt gerade so kurz vor diesem großen Release und was für Erwartungen has du vielleicht auch?
Das war, glaube, ich ganz gut in den letzten zwei Jahren, ich hab mich ein bisschen geresettet und bin einfach für alles dankbar, was passiert. Für jede Reaktion und das es Menschen gibt, die mir schreiben, dass ihnen schon die erste Single bei ihrem Emanzipationsprozess geholfen hat. Mir hat eine Frau geschrieben, deren Mann nicht möchte, dass sie arbeiten geht. Aber nachdem sie Madonna Whore Complex gehört hat, hat sie sich dazu entschieden, sich von ihm zu trennen. Das ist das größte Geschenk für mich. Alleine für diese eine Nachricht hat es mir schon gereicht, das Album zu machen!
Das ist wahrscheinlich wirklich das krasseste Feedback, das man kriegen kann, oder? Also wenn man Leute mit der Musik wirklich so bewegt und einen positiven Einfluss auf deren Leben nimmt.
Ja genau, wenn Leute vor dir stehen und mitsingen und du merkst, dass viele Leute relaten können, ist das krass. Aber wenn einzelne Personen danach zu mir kommen und erzählen, was das für sie persönlich verändert hat, ist das auch sehr berührend. Man kennt es ja, dass einzelne Lieder oder Alben einem selbst manchmal so einen Push geben, und wenn ich selbst diesen Anstoß geben durfte, macht mich das schon sehr happy.
Wo liegen deine musikalischen Wurzeln? Wie ist es überhaupt dazu gekommen, dass du jetzt hier sitzt?
Ganz ursprünglich, als ich jung war tatsächlich im deutschen Schlager! Also das, was man heute als Schlager bezeichnen würde, Connie Francis und France Gall haben ja auch Rock’n’Roll und Popmusik gemacht. Ich habe, als ich klein war, immer Platten auf Antikmärkten gesammelt, weil mein Vater Antikhändler war und mir langweilig war (lacht). Ich habe immer das, wo coole Frauen drauf waren gesammelt und es mir dann später zu Hause angehört und nachgesungen (lacht). Später kam dann Blues. Ich habe ja polnische Wurzeln, mein Opa hat immer Musik gemacht und in Polen bei den Landarbeitern war Blues sehr beliebt, weil die sich da sehr gut reinversetzen konnten. Mein Opa hat immer Mundharmonika und Banjo gespielt und meine Mutter Mandoline und Trompete, daher bin ich einfach sehr doll mit Blues sozialisiert worden. Aber ein sehr großer Einfluss war auch die Gegend, in der ich groß geworden bin und dieses Ton Steine Scherben Umfeld, in dessen Dunstkreis ich musikalisch angefangen habe, in Bands zu arbeiten und Lieder zu schreiben. Früher konnte ich mich immer gut mit der Schwermut von Blues identifizieren, aber in den letzten Jahren tanze ich mich lieber mit Funk aus dem Frust raus!
Dein Album behandelt große Themen wie Sexismus, Emanzipation und Identität, trotzdem ist es unglaublich Tanzbar und nicht so schwer, wie die Themen vermuten lassen. Wie gehst du dein Songwriting an? Fällt es dir leicht, diese Themen mit so einer Leichtigkeit anzugehen?
Ich muss sagen, einige Lieder wie Madonna Whore Komplex, sind mir sehr schwer gefallen. Dieser Trennungsprozess vom Patriarchat, von Menschen, die mich klein halten und somit auch von Leuten aus meinem freundschaftlichen, beruflichen, romantischen und auch Arbeitsumfeld war sehr schlimm, aber auch gut. Obwohl es so viele Red Flags gab, hat es lange gedauert, das einzusehen, weil es so viele in meinem Leben betroffen hat. Als ich das dann endlich gemacht hab, war‘s gut, aber auch schmerzhaft, manche Lieder haben beim Schreiben extrem wehgetan. Aber als ich dann einmal den Haken drunter gemacht habe, habe ich es mir auch selber geglaubt und so ein Lied hilft mir dann extrem dabei. Ganz viele andere Tracks waren auch von meiner Frustration durch die Arbeit, die ich während Corona in der Obdachlosenhilfe gemacht habe, beeinflusst. Bei Keine Zeit zum Beispiel geht es darum, dass es mich total angepisst hat, dass wir immer wieder „Nein“ gehört haben, wenn wir irgendwas bei der Sozialbehörde oder der Stadt durchsetzen wollten. Ich musste immer wieder Motivationspunkte suchen, die mich hochziehen, weil man sich sonst ganz schnell diesem Weltschmerz hingibt. Aber dann bringe ich auch niemandem was und das Songwriting war dann die Stütze, um positive Narrative zu schaffen und um zu wissen, wofür ich’s eigentlich mache. Deswegen ist es so tanzbar geworden, weil ich das einfach für mich selbst brauchte (lacht).
Ich find das aber auch total schön, weil es so viele Alben gibt, die sich auf eine schwere Art und Weise mit diesen Themen beschäftigen. Die haben auch absolut ihre Berechtigung, diesen Ansatz muss es definitiv auch geben. Aber es ist auch schön, sowas in mit einem positiven Ansatz zu hören.
Ja man! Ich liebe diese Musik auch und ich hab davon auch mein Leben lang ganz viel geschrieben, aber gerade jetzt im Lockdown. Wenn das Leben schlecht ist, muss die Musik gut sein (lacht)! Ich kann keinen weiteren Mollakkord mehr ertragen (lacht). Es ging nicht mehr, ich konnte nicht mehr die ganze Zeit nur grau sehen und wie schlecht es allen geht und mir Sorgen darüber machen, das die Welt gerade untergeht und mich dann auch noch selbst die Klippe runter schubsen (lacht). Deswegen hab ich da meine bunte Leiter heraus gebaut!
Du hast zwei Jahre lang an dem Album gearbeitet, dadurch ist der Prozess ja leider unweigerlich mitten in die Pandemie gefallen – wie bist du damit umgegangen?
Ich muss sagen, dass ich mein Album eigentlich vor Corona schon ziemlich weit geschrieben habe. Aber halt immer im Stress und auf Zugfahrten und ich sage ganz ehrlich, wenn man schon was rausgebracht hat und somit auch Leute mit drin hängen, die die Musik hören aber auch Leute, die in einen investieren, dann macht einen das bestechlich. Das macht einem Stress, man will besser und erfolgreicher werden, man will niemanden enttäuschen und als Corona war hab ich mir das angehört und konnte mich mit nichts davon identifizieren. Im Lockdown hab ich dann gemerkt, dass selbst wenn es jetzt so bleiben würde und sich keine:r mehr für mich interessiert, dann habe ich immer noch andere Dinge im Leben für die ich brenne und die mich interessieren. Das hat mich auf einmal in meiner Kreativität viel unkorrupter gemacht, ich konnte nochmal neu schreiben, um der Musik Willen und nicht um meiner selbst Willen. Während Corona konnte ich mich emotional total davon befreien, weil ich ja auch aus ganz vielen Systemen und Prozessen raus war. Ich hatte eine gewisse Distanz, die mir gesagt hat, dass ganz viele Sachen die in meinem Leben passieren nicht cool sind, sowohl menschlich als auch in meiner kreativen Entwicklung. Dann habe ich auf vielen Ebenen eine neue Freiheit erlangen können und habe den Trennungsprozess von ganz vielen gesellschaftlichen Normen und so weiter verarbeiten können. Das war total krass, zwei Jahre hat das Album gedauert, aber zwei Jahre haben auch diese ganzen Prozesse gedauert und jetzt hab ich auf einmal ein Indie Label, kann frei arbeiten, bin in keiner weirden Freundschaft mehr.
Ich find‘s immer total krass zu beobachten, wenn man sich von Leuten und Strukturen löst, die einem nicht gut tun, dann läuft plötzlich alles von ganz alleine. Man sieht es ja jetzt auch an dem, was du gesagt hast, du hast damit abgeschlossen und auf einmal fügt sich einfach alles.
Ja! Ich hab auch so lange damit gehadert, Leute hinter mir zu lassen, weil ich nicht undankbar sein wollte. Aber das hab ich jetzt hinter mir gelassen! Also BYE! (lacht)
Haben die diversen Lockdowns einen großen Einfluss auf den Aufnahmeprozess und auch auf deine Kreativität genommen?
Ja, ich hab ganz viel in meinem sieben Quadratmeter Souterrain Kellerzimmer geschrieben, das ist natürlich was ganz anderes, weil man ganz bei sich ist und weniger Einflüsse von außen hat. Dann hat es aber auch kreativ ganz viel beeinflusst, dass ich die meisten Sachen zu zweit im Studio aufgenommen habe, das hat ein super konzentriertes Arbeitsverhältnis geschaffen. Ich habe davor sehr gerne mit Band Konstellationen im Raum gearbeitet, dieses Mal war alles viel kleiner und ich hatte viel mehr Zeit, mich auf jede einzelne Spur zu konzentrieren. Ich habe mich viel weniger hinter den Gitarren versteckt.
In den letzten Jahren ist bei dir sehr viel passiert, von deiner ersten EP, über das Trettmann Feature bis hin zum jetzt erscheinenden Album! Du hast ja gerade schon angesprochen, dass sich vor allem in deinem Umfeld sehr viel verändert hat, was konntest du sonst aus dieser Zeit für “Learnings” mitnehmen und wie hast du dich verändert?
Ich war jemand, die sich auch durch Familiensituationen für viele Sachen geschämt hat, die Andersartigkeit betreffen. Obwohl ich für andere Menschen glaube ich schon immer so gewirkt hab, als wäre ich total sicher in dem, was ich tue. Ich war immer total links und laut, aber trotzdem war es mir mega unangenehm über meine Queerness zu sprechen, ist es mir zum Beispiel vor meiner Oma immer noch. Ich will aber mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie heteronormative Cis-Menschen durch die Welt gehen. Es ist ja nichts schlimm daran, egal ob ich eine andere Herkunft habe, ob ich queer bin oder ob ich aus einer Familie mit psychischen Krankheiten komme. Das ist nicht peinlich! Das habe ich lange gedacht und mich dafür geschämt. Jetzt singe ich polnische und jiddische Sachen und meine Fans, auch die deutschen, singen das mit und zelebrieren das. Ich dachte früher, dass das nicht möglich wäre, aber ich kannte einfach nicht die richtigen Leute. Es gibt diese Welt, in der wir Andersartigkeit embracen, in der wir uns alle dafür feiern. Das ist so eine Befreiung. Ich trage immer noch einige Päckchen mit mir rum, aber freue mich über jedes, dass ich ablegen kann.
Damit sind wir quasi auch schon mitten im nächsten Thema! Identität spielt eine große Rolle auf Madonna Whore Komplex, hast du das Gefühl, deine eigene Identität schon gefunden zu haben?
Ich habe das Gefühl, während Corona meine eigene Identität viel mehr gefunden zu haben als zuvor. Ich hatte super viele Prozesse und Phasen, in denen ich mich nicht wohl gefühlt habe. Mittlerweile bin ich einfach nur froh über den Mix und sehe die verschiedenen Struggles die ich hatte, als Bereicherung an! Ich habe angefangen zu akzeptieren, dass ich nicht eins bin, ich bin nicht nur polnisch oder nur deutsch, ich kann alles sein! Auch Madonna Whore Komplex handelt davon, dass ich mich als Frau nicht eindimensional kategorisieren möchte, ich glaube, wenn man selbst aufhört, sich zu kategorisieren, dann wird das Leben einfacher. Ich hab gemerkt, dass es keinen Sinn macht, mich in irgendeine Schublade zu stecken, ich gehöre irgendwie überall zu (lacht).
Das Learning ist, glaube ich, am Ende viel mehr Wert, als sich klar Kategorisieren zu können!
Ja, genau! Es verschließt einem ja auch manchmal Türen, wenn man sich nur einer Gruppe ganz klar zugehörig fühlt und nicht über den Tellerrand blickt. Ich möchte einfach allen Menschen offen begegnen und dann gucken, was passiert!
Ursprünglich sollte das Album ein Country Album werden, ab welchem Punkt hast du die Idee verworfen und warum?
Tatsächlich war es der Song Madonna Whore Komplex (lacht). Am Anfang hört man es noch durch die Gitarre und die Schwere, aber dann brauchte ich diesen Twist. Ich habe gemerkt, dass es nicht funktionieren wird, wenn ich mich nur auf eine Musikrichtung fokussiere (lacht). Dadurch, dass ich die Songs zuerst mit diesem Country Ansatz geschrieben und teilweise aufgenommen habe, hat ganz viel noch diese typische Country Songwriting DNA. Die Tracks erzählen Geschichten von Anfang bis Ende, aus meiner Perspektive und aus meiner emotionalen Erfahrung, aber trotzdem lassen sie Platz für Charakter und Witz. Dolly Parton war, was Songwriting angeht, eine große Inspiration für mich! Auf jeden Fall wurde es am Ende kein Country Album, aber ich bin sehr froh, dass die ganzen Benjos noch drin geblieben sind (lacht).
Du hast ja schon zwei EPs veröffentlicht, wie unterscheidet sich ein EP Prozess für dich von einem Albumprozess?
Also meine eigene Erwartungshaltung hat sich dadurch schon verändert, dass Menschen meine Musik schon gehört hatten. Das hat meinen Arbeitsansatz am Album etwas verändert, aber dann kam Corona und dann war alles wieder gleich (lacht). Ich hatte früher ein extremes Künstlerego, ich musste alles alleine machen, ich wusste alles am besten und wenn ich irgendetwas nicht alleine mache, dann bin das nicht ich und es ist nicht meine Kunst. Wenn man sich aber in Amerika zum Beispiel die ganzen geilen Tracks anguckt, dann arbeiten immer super viele Leute daran mit, auch bei den alternativen Sachen. Irgendwann hatte ich durch Schreibblockaden keine andere Wahl als Max Richard Leßmann, den ich kenne, seit ich 12 bin, zu schreiben und ihn um Hilfe zu bitten. Das hat mein Leben verändert, mit ihm zu schreiben ist wie eine Therapie Session, er ist jemand, der mich richtig gut kennt und mit dem ich mir Bälle hin und her schmeißen kann. Mein Team ist gerade noch sehr klein, aber ich freue mich auf allen Ebenen Musiker:innen kennenzulernen, die mir helfen, Dinge besser zu machen. Ich glaube nicht mehr, dass alles besser ist, wenn ich es alleine mache. Das ist so eine abgehobene Art und auch eine Art die einem alles selber schwer macht.
Du bist ja auch Schauspielerin, wie ist es, so verschiedene kreative Identitäten zu haben, was ist dort auf beiden Seiten gefragt und trennst du diese Identitäten? Wenn ja, wie?
Ich hab es in meinem Kopf immer so getrennt, dass Musik Arbeit ist, auch wenn ich es über alles liebe. Aber Schauspiel kam halt irgendwie wie die Jungfrau zum Kind, ich habs gar nicht geplant. Am Filmset gebe ich Alli Neumann an der Garderobe ab und kann in eine ganz andere Welt tauchen. Ich bin jemand, die aufgrund von ADHS und so nicht gut Urlaub machen kann und deshalb ist Schauspiel mein ultimativer Urlaub! Jetzt beim letzten Film 3 ½ Stunden, habe ich in meinem Filmcharakter Lieder für den Film geschrieben. Ich habe mich dann wie ‘Carla Engel’ angezogen und alles mit Zettel und Stift notiert, es war eine ganz andere Erfahrung in Character zu schreiben, das hat so Spaß gemacht!
Was sind deine weiteren Pläne und Ziele, nachdem das Album draußen ist?
Ich hab mir noch gar keine Gedanken gemacht! Ich will, dass alles erst mal weiter läuft und im Flow bleibt! Weiterhin viele coole und spannende Menschen kennenlernen und mich weiter emanzipieren! Wo mich das hin bringt, ist mir egal, ich stehe einfach auf und dann gucke ich mal, worauf ich Bock habe oder was in meinem Terminkalender steht (lacht).
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